- Literaturnobelpreis 1958: Boris Leonidowitsch Pasternak
- Literaturnobelpreis 1958: Boris Leonidowitsch PasternakDer russische Schriftsteller erhielt den Nobelpreis für Literatur für seinen bedeutenden Beitrag zur zeitgenössischen Lyrik und zur großen russischen Erzähltradition.Boris Leonidowitsch Pasternak, * Moskau 10. 2. 1890, ✝ Peredelkino (bei Moskau) 30. 5. 1960; 1909-13 Philosophiestudium, 1914 erster Gedichtband »Zwilling in Wolken«, 1923 Heirat mit Jewgenija Lourié, (Scheidung), 1934 Heirat mit Sinaida Neuhaus, 1934-43 Übersetzungen, 1937 Publikationsverbot, 1957 »Doktor Schiwago«, 1958 Ausschluss aus dem Schriftstellerverband und Ablehnung des Nobelpreises.Würdigung der preisgekrönten LeistungDer Moskauer Arzt Juri Schiwago steht am Beginn seiner Karriere, als der Erste Weltkrieg ausbricht. An vorderster Front erlebt Doktor Schiwago das Grauen des Kriegs mit. Um der Hungersnot in Moskau und den Wirren der Oktoberrevolution zu entgehen, flüchtet er sich mit seiner Familie in den fernen Ural. Dort wird er einer Frau wieder begegnen, die er in einem Lazarett kennen gelernt hat und die er seitdem nicht vergessen konnte: der Lehrerin Lara Antipowa.Liebesgeschichte vor historischem HintergrundDie schicksalhafte Begegnung des Arztes und Dichters Juri Schiwago mit Lara bildet das Kernstück von Boris Pasternaks bekanntestem Werk »Doktor Schiwago«. Erzählt wird die Geschichte Schiwagos vor dem Hintergrund der tief greifenden Umwälzungen in Russland zwischen 1903 und 1929 — dem zerbröckelnden Zarenreich, dem Ersten Weltkrieg, der Oktoberrevolution und dem Triumph des Sowjetkommunismus unter Lenin und Stalin. Es sind zwei große Themen, die Pasternak in seinem Roman miteinander verbindet: Zum einen will er »ein historisches Bild von Russland« in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geben und zeichnet die stürmischen Entwicklungen dieser Zeit im Erleben eines literarischen Helden nach, der sich trotz aller Nöte und Schwierigkeiten eine individualistische Weltanschauung und seinen Glauben an die unveräußerliche Freiheit der menschlichen Seele bewahrt; zum anderen bringt er in diesem Werk seine eigenen »Ansichten von der Kunst, vom Evangelium, vom Leben des Menschen in der Geschichte« zum Ausdruck. Für Pasternak stellt sich im Lauf der Zeit heraus, dass sich die totalitäre bolschewistische Ideologie im unauflösbaren Widerspruch befindet mit seinem Verständnis der alles überragenden Natur, zu der auch der Mensch gehört. Wie Pasternak gerät auch seine literarische Figur Schiwago durch seine Aufrichtigkeit, seine religiöse Überzeugung und seine geistige Unabhängigkeit in Konflikt mit den Theorien des revolutionären Staatsapparats. Das Ende von »Doktor Schiwago« weist symbolisch über sich hinaus: Schiwago stirbt 1929, weil er in der sommerlich-stickigen Moskauer Straßenbahn keine Luft mehr bekommt — so wie die Repressalien der Stalindiktatur ab dieser Zeit der Literatur keine Luft mehr zum Atmen lassen.Der unbekannte PasternakObwohl »Doktor Schiwago« Pasternaks berühmtestes Werk ist, begründete sich sein literarischer Ruf in der Sowjetunion auf seiner Lyrik, die das Nobelpreiskomitee zwar ausdrücklich würdigte, die aber im Westen kaum bekannt ist.Boris Pasternak, der aus einer Künstlerfamilie stammt, studiert zunächst Musik. Ab 1909 wendet er sich der Philososphie zu, hört Vorlesungen in Marburg und Moskau und beginnt nach seinem Studienabschluss 1913 sein litararisches Schaffen. 1914 erscheint sein erster Gedichtband »Zwilling in Wolken«. Unter dem Eindruck der Russischen Revolution von 1917 entsteht die bedeutende Lyriksammlung »Meine Schwester, das Leben«.Hauptgegenstand von Pasternaks Gedichten, die eine bildreiche, musikalische Sprache auszeichnet, ist die Natur. Diese Natur ist von ursprünglicher Kraft und von unermüdlichem Vorwärtsstreben durchdrungen, sie ist gleichsam das aus eigenem Antrieb handelnde Subjekt und spricht gleichberechtigt mit dem Menschen. Auch andere Themen wie die Dichtkunst oder die Liebe sind bei Pasternak stets in ein umfassendes, von der Natur regiertes Universum eingebettet.Der Aufforderung der Partei, mit verständlicher Lyrik den Sozialismus zu verherrlichen, kommt Pasternak mit der 1932 veröffentlichten Gedichtsammlung »Zweite Geburt« nach. Doch bald stellt sich Ernüchterung ein. Als im Lauf der 1930er-Jahre Verhaftungswellen und Säuberungsaktionen das Land überrollen, fallen auch viele Schriftsteller dem stalinistischen Terror zum Opfer. Der Dichter in Pasternak verstummt. Mehr als zehn Jahre arbeitet er — 1937 mit einem Publikationsverbot belegt — nur an Übersetzungen von Shakespeare, Goethe und anderen westeuropäischen Dichtern ins Russische und veröffentlicht erst in den 1940er-Jahren wieder Lyrik (»In den Frühzügen« 1943; »Irdische Weiten« 1945).Im Jahr 1956 beendet Pasternak die Arbeit an »Doktor Schiwago«, und da sich nach Stalins Tod unter Nikita Chruschtschow eine politische Tauwetterphase abzeichnet, hofft er, seinen Roman veröffentlichen zu können. Doch weit gefehlt, denn der Roman erscheint 1957 zunächst in italienischer Übersetzung. Ein Jahr später wird eine im Ausland gedruckte russische Erstausgabe veröffentlicht, bald folgen Übersetzungen in alle wichtigen Sprachen der Welt. Die Hollywood-Verfilmung von »Doktor Schiwago« wird 1966 ein Kassenschlager und macht Pasternaks Roman endgültig zum internationalen Bestseller. Nur in der Sowjetunion bleibt das Werk verfemt, erst 1988 erscheint es im Zuge von Michail Gorbatschows Perestroika vollständig.Der Grund: In der Sowjetunion hält man den Stoff für nicht systemkonform. Die Verleihung des Nobelpreises, die Pasternak zuerst »überaus dankbar, gerührt, stolz, erstaunt, beschämt« macht, wird zum Politikum und als feindseliger Akt gegen die UdSSR betrachtet. Pasternak wird als »Landesverräter«, als »räudiges Schaf« bezeichnet und wenige Tage nach der Nobelpreis-Bekanntgabe aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Daraufhin lehnt Pasternak in einem Telegramm an die Schwedische Akademie den Nobelpreis ab. Doch nur durch eine an Chruschtschow gerichtete schriftliche Entschuldigung entgeht der Autor der drohenden Ausbürgerung. Anderthalb Jahre später stirbt Pasternak an Lungenkrebs.Die Auszeichnung hat Boris Pasternak in seiner Heimat zu einer Unperson gemacht — ein Schicksal, das er kurz vor seinem Tod in seinem Gedicht »Nobelpreis« in Worte gefasst hat:Bin am End: ein Tier im NetzeFern gibt's Menschen, Freiheit, Licht.Hinter mir der Lärm der HetzeUnd nach draußen kann ich nicht.(Übersetzung Rolf-Dietrich Keil)S. Straub
Universal-Lexikon. 2012.